3 Fragen an … Dr. Ruth Müntinga, CEO von motus5 & Be oK Rolemodel
Dr. Ruth Müntinga ist Mitgründerin und CEO von motus5, einer Organisationsberatung für Gleichstellung und Diversität. Ihr Ziel ist es, die gläserne Decke abzuschaffen und die Zufriedenheit aller durch mehr Gleichstellung zu fördern. Sie selbst war in ihrem Berufsleben oft die einzige Frau am Tisch, sodass sie die Herausforderungen für Frauen in untypischen Berufen sehr gut kennt. So hat sie sich auf Ursachenforschung begeben und dabei Lösungen entdeckt.
Warum ist Ihnen das Thema ein so großes Anliegen?
Berechnungen prognostizieren, dass es noch deutlich über 100 Jahre dauern soll, bis Frauen und Männer faktisch gleichgestellt sind. Das dauert mir einfach zu lange, vor allem, weil ich das sicher nicht erleben würde!
Ich selbst komme aus der sozialen Unterschicht, arbeite schon lange in Bereichen, in denen ich oft die einzige oder eine der wenigen Frauen bin und habe zudem sowohl politisch wissenschaftlich als auch beratend zu dem Thema gearbeitet.
Das spannende an dem Phänomen, dass Frauen und Männer bis heute nicht gleichgestellt sind, ist, dass es von unseren Gesetzgebenden her eigentlich so vorgesehen ist. Dennoch erleben wir eine Menge von Gender Gaps und Diskriminierung. Zudem zeigen unzählige Forschungen, dass Gleichstellung für alle Menschen besser wäre, für jede einzelne Person, für Organisationen, für uns als Gesellschaft. Und dennoch fällt es uns so schwer, dahin zu kommen. Die Frage nach den Ursachen dafür, war die Geburtsstunde von motus5, denn wir haben dabei auch Lösungen gefunden.
Wie unterstützen Sie die Gleichstellung mit motus5?
Die Ursachen von Ungleichstellung liegen in den Neurowissenschaften: 60 – 80 Prozent unseres Denkens und Handelns wird durch Routinen bestimmt, denn Routinen sparen Energie und ermöglichen uns so überhaupt erst die Bewältigung unseres immer komplexer werdenden Alltags.
Routinen beziehen sich aber nicht nur auf Tätigkeiten wie Gehen, Sprechen, Lesen, Fahrradfahren, Schwimmen, etc., sondern auch auf das, was wir denken. Wir lernen schon früh Stereotype, die wir ebenso brauchen, um unseren Alltag zu bewältigen. Je nachdem, in welchem Kontext wir uns bewegen oder wie die Menschen aussehen, die uns begegnen, passen wir unser Verhalten automatisch an – und das ist auch gut so! Es macht einen Unterschied, ob ich in einer Bank eine Beratung bekomme und wie ich mich abends in einer Kneipe verhalte. Und das sind auch Stereotype, die wichtig sind, um uns zurechtzufinden.
Führe ich jedoch ein Vorstellungsgespräch, kann mein Stereotyp nachteilig sein, vor allem, wenn ich mir dadurch die Chance einer richtig guten Mitarbeiter*in entgehen lasse. Ich selbst habe es schon erlebt: Aufgrund einer sehr schüchternen Erscheinung, einer zittrigen Stimme und einem konservativen Outfit hätte ich mir mal fast die beste Mitarbeiterin entgehen lassen, die ich hätte finden können!
Diese Denkroutinen oder Stereotype und Vorurteile betreffen jedoch nicht nur die Menschen, denen ich begegne, sondern auch mich selbst. Entlang der 7 Kerndimensionen der Charta der Vielfalt werden auch unsere eigenen Erfahrungen geprägt. Es macht also einen großen Unterschied, ob ich als Mädchen oder Junge erzogen werde, in welchem Kulturkreis ich aufwachse, wie gesund und funktionsfähig mein Körper ist, welche sexuelle Orientierung oder Religion ich präferiere und so weiter. All diese Kerndimensionen haben Einfluss auf mich und zwar mein ganzes Leben lang. Denn auch andere Menschen behandeln mich ja anders, wenn ich eine Frau bin. Oder wie häufig wird einem jungen Mann in den Mantel geholfen?
Das hat Konsequenzen auf meine Selbstwahrnehmung. Als Mädchen werde ich angehalten, mich eher im Hintergrund zu halten, mich stärker im Haushalt einzubringen und weniger Raum einzunehmen. Das führt dazu, dass auch erwachsene Frauen mehr Selbstzweifel haben und weniger sichtbar werden.
Besonders stark ausgeprägt ist dies in Minderheitensituationen, z. B. wenn der Anteil von Frauen in einem Unternehmen, einer Abteilung, einem Team deutlich unter einem Drittel liegt. Dann sprechen wir in der Forschung von einer „kritischen Masse“, die wir erreichen müssen, damit sich die Minderheit nicht mehr als Ausnahme versteht. In einer solchen Minderheitensituation werden Routinen noch stärker bedient, da wir diese brauchen, um Energie zu sparen, die wir z. B. für den Umgang mit anderen Dingen brauchen – teilweise sogar Diskriminierung.
Und da setzen wir genau an: Wir unterstützen Organisationen und Personen darin, sich dieser Mechanismen bewusst zu werden und gezielt zu entscheiden, welche sie ändern wollen. Dann begleiten wir den Veränderungsprozess, denn auch der ist nicht so einfach, wie wir es uns vielleicht wünschen. Das ist so wie mit Neujahrsvorsätzen: An Silvester nehmen wir uns vielleicht vor, mehr Sport zu machen, aber ab Mitte Januar sind die Fitnessstudios wieder leer.
Inwiefern kann aus Ihrer Sicht eine Sensibilisierung bereits ab Jahrgang 6 langfristig helfen?
Da viele Routinen, also Stereotype und Vorurteile, bereits in unserer Kindheit entstehen, ist dies ein wichtiger Ansatzpunkt. Das Problem hierbei ist, auch Lehrkräfte, Eltern, Medien, etc. sind Teil unserer Gesellschaft und leben ebensolche Stereotype vor. Deshalb braucht es einen ganzheitlichen Ansatz: Wir können im Prinzip überall anfangen, denn jede*r ist Vorbild. Jede Person hat Einfluss, jede Person ist Teil eines Systems. In Schulen damit zu beginnen ist oft auch ein finanzielles Problem: Ich selbst erhalte für motus5 kaum Aufträge aus dem Bildungssektor für Kinder, da es dafür kein Geld gibt. Meistens mache ich solche Aufträge im Ehrenamt, um meinen Beitrag zu leisten.
Aber wie gesagt: Wir dürfen überall mit der Arbeit loslegen, da wir alle Teil desselben Systems sind. Wir brauchen Agent*innen des Wandels, um Gleichstellung zu fördern und damit einen Beitrag zu gesellschaftlicher Zufriedenheit zu leisten.