„Klischeefreie Berufsorientierung eröffnet neue Chancen fürs Handwerk“

Ein Interview mit Andreas Meyer, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Bremen.

Der enorme Fachkräftebedarf stellt das Handwerk seit Jahren vor große Herausforderungen. Umso wichtiger wird eine moderne, vielfältige und klischeefreie Berufsorientierung, die jungen Menschen neue Perspektiven eröffnet – unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder sozialem Hintergrund. Die Handwerkskammer Bremen engagiert sich bereits seit längerem in diesem Bereich. Wir haben mit Herrn Andreas Meyer, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer, über seine Einschätzungen, Erfahrungen und Ziele gesprochen.

Herr Meyer, wie erleben Sie aktuell die Situation im Handwerk in Bezug auf den großen Bedarf der Betriebe an Fachkräften?
In fast allen Gewerken ist das mittlerweile Thema Nummer eins. Immer, wenn die verantwortlichen Personen aus Handwerksbetrieben bei uns im Haus oder anderswo zusammentreffen, kommt das Gespräch früher oder später aufs Thema Personal. Das wird voraussichtlich auch noch längere Zeit so bleiben oder sich sogar noch verstärken. Denn für ihre häufig sehr anspruchsvollen Aufgaben, zum Beispiel bei der energetischen Sanierung von Gebäuden, brauchen die Betriebe hervorragend ausgebildete Fachkräfte. Weil viele von diesen in den kommenden Jahren aber in den Ruhestand treten werden und nicht die entsprechende Anzahl junger Menschen in die Ausbildung geht, haben wir schon heute eine große Lücke. Diese wird sehr wahrscheinlich noch weiter wachsen.

Welche Rolle spielt dabei aus Ihrer Sicht eine gezielte Berufsorientierung, um den Fachkräftebedarf wirksam zu decken?
Anders als zum Beispiel viele große Konzerne sind die Handwerksbetriebe darauf angewiesen, ihre Fachkräfte selbst auszubilden. Deshalb haben sie ein großes Interesse an einer guten Berufsorientierung. Gerade vor dem Hintergrund, dass viele Jugendliche von Haus aus wenig Kontakt mit dem Handwerk haben und bestenfalls nur eine Vorstellung von den ganz bekannten Handwerksberufen wie Kfz-Mechatroniker*in oder Tischler*in, kommt der Berufsorientierung aus unserer Sicht eine ganz zentrale Rolle zu. Das Handwerk bietet über 130 faszinierende Ausbildungsberufe, von der Anlagenmechanik bis zur Zimmerei. Mit guter Berufsorientierung können wir dafür sorgen, dass Jugendliche diese Faszination kennenlernen und eine duale Ausbildung im Handwerk in ihre Berufswahl einbeziehen.

In letzter Zeit engagiert sich die Handwerkskammer verstärkt für eine klischeefreie Berufsorientierung. Was verstehen Sie konkret darunter?
Wir wollen ausnahmslos allen Jugendlichen, egal ob männlich, weiblich oder divers, die Chance geben, verschiedene Handwerksberufe kennenzulernen. Dabei spielen die althergebrachten Vorstellungen von typischen Männer- oder Frauenberufen keine Rolle. Kurz gesagt: Wenn Mädchen die Bauberufe kennen lernen möchten, begrüßen wir das sehr. Ebenso, wenn Jungen ins Friseurhandwerk hineinschnuppern möchten.

Warum ist es für das Handwerk besonders wichtig, mit alten Rollenbildern und geschlechtsspezifischen Klischees aufzuräumen?
Aufgrund des großen Bedarfs an Fachkräften kann es sich das Handwerk schlicht und einfach nicht mehr leisten, auf die Hälfte der Bevölkerung zu verzichten. Außerdem spiegelt sich das Umdenken in der Gesellschaft, was Rollenbilder betrifft, natürlich auch im Handwerk wider. Viele junge Menschen sehen ihre Zukunft nicht in rein von Männern dominierten Berufen. Darauf muss und will das Handwerk reagieren. Letztlich ist es auch eine Imagefrage.

Begegnen Ihnen in Ihrer Arbeit bestimmte Vorurteile gegenüber handwerklichen Berufen, die junge Menschen von einer Ausbildung abhalten könnten?
Nach wie vor sind es häufig die überholten klassischen Vorurteile, die dafür sorgen, dass Jugendliche das Handwerk nicht auf den Schirm nehmen. Zu viele verbinden mit dem Handwerk noch immer geringe Verdienstmöglichkeiten, schlechte Karrierechancen, einen rauen Umgangston und so weiter. Damit aufzuräumen, gehört zu unseren wichtigsten Aufgaben bei der Berufsorientierung.

Welche Erfahrungen haben Sie z.B. mit dem Bremer Future Parcours gemacht – gerade im Hinblick auf Vielfalt und Offenheit in der Berufswahl?
Gerade bei der Berufsorientierung gilt: Persönliche Eindrücke sind durch nichts zu ersetzen. Bei den Future Parcours haben die Jugendlichen und die Betriebe die Chance zum direkten Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Dabei können dann auch Vorurteile überwunden werden.

Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit mit Projekten wie Be oK, die sich gezielt für klischeefreie Berufsorientierung einsetzen? Was können solche Kooperationen bewirken?
Wir begrüßen alle Bemühungen, die dazu beitragen, dass Jugendliche sich frei von Klischees für einen Beruf entscheiden, der ihren Stärken und Interessen wirklich entspricht. Denn das ist letztlich die Voraussetzung für eine passende Berufswahl und damit für beruflichen Erfolg.

Welche Maßnahmen oder Projekte plant die Handwerkskammer ggf. künftig, um mehr Diversität in handwerklichen Ausbildungsberufen zu fördern?
Vorbilder spielen für Jugendliche bei der Berufswahl eine wichtige Rolle. Das nutzen wir im Marketing für die Ausbildungsberufe und rücken zum Beispiel Frauen, die in nach wie vor von Männern dominierten Berufen erfolgreich sind, ins Licht der Öffentlichkeit.

Was wünschen Sie sich von Schulen, Eltern und der Politik, damit Jugendliche freier und unvoreingenommener ihren beruflichen Weg wählen können?
Ganz generell sollte die Berufsorientierung an allen Schulen noch weiter ausgebaut werden, also auch an den Gymnasien. Ziel muss sein, dass alle die Chance haben, das Handwerk kennenzulernen. Denn nur wenn man etwas kennt, kann man sich bewusst dafür oder auch dagegen entscheiden. Ich bin mir aber sicher, dass viele Jugendliche sich vom Handwerk begeistern lassen, wenn sowohl Lehrerinnen und Lehrer als auch Eltern ihnen die Gelegenheit dazu geben und sie unvoreingenommen bei der Berufswahl begleiten. Die Politik kann und muss die Rahmenbedingungen für eine gute Berufsorientierung setzen.

Zum Abschluss: Welchen Rat würden Sie einem jungen Menschen geben, der sich heute mit der Berufswahl beschäftigt – ganz unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder bisherigen Erwartungen?
Lasse dich von dem leiten, was dich wirklich interessiert und nicht von dem, was die Gesellschaft, Familie oder Freunde von dir erwarten. Das ist vielleicht leichter gesagt als getan und erfordert sicher auch viel Selbstvertrauen. Es lohnt sich aber. Denn wenn man wirklich für etwas brennt, ist man darin auch gut. Mein zweiter Rat: Probiere dich aus und bewirb dich für freiwillige Praktika. So erkennst Du am besten, was dir gefällt und hast im Idealfall den Fuß in der Tür zu einem Ausbildungsplatz.